Reitschuster zur Ukraine-Krise
Boris Reitschuster war lange in Russland und spricht fließend russisch.
So ist er in der seltenen Lage, beide Seiten kritisch zu sehen. Wenn man es auf seiner Seite abonniert, erhält man einmal pro Woche sein Wochenbriefing – einen immer sehr lesenswerten Artikel. Diesmal habe ich es hier eingearbeitet, weil es um seine Einschätzung der Ukraine-Krise geht und man selten die Gelegenheit hat, vor allem wenn es sich um eine Sprache geht, die man nicht versteht, einen Beide-Seiten-Bericht zu bekommen.
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Liebe Leserinnen und Leser,
lange habe ich mir gewünscht, einmal ein Wochenbriefing zu machen, in dem nicht Corona im Mittelpunkt steht. Dass der Wunsch so in Erfüllung geht, wie das jetzt geschieht, hätte ich mir nie träumen lassen. Europa steht an der Schwelle zu einem neuen Krieg. Wladimir Putin hat eine riesige Armee an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen; in dem Land mit seinen mehr als 40 Millionen Einwohnern herrscht eine gewaltige Kriegsangst. Die Zeichen stehen auf Angriff, das wurde mir gerade endgültig klar, als ich Putins Rede anhörte, im russischen Original.
In Deutschland sind die Fronten bei der Einschätzung leider fast genauso verhärtet wie bei Corona. Wer sowohl die Bundesregierung als auch den Kreml kritisch sieht wie ich, sitzt zwischen allen Stühlen. Ich habe 16 Jahre in Russland gelebt, es ist meine zweite Heimat geworden, meine Töchter sind genauso Russinnen wie Deutsche. Ich liebe das Land und die Leute. In Corona-Zeiten habe ich es noch mehr lieben gelernt – weil die Menschen sich von einer Seite gezeigt haben, die mir sehr viel näher ist als die Seite, die in Deutschland so viele zeigen.
Umso trauriger macht es mich, dass bei Russland viele nicht das tun, was bei Deutschland selbstverständlich ist: Niemand käme auf die Idee, einen Kritiker von Merkel oder Scholz als „Deutschlandhasser“ zu bezeichnen oder von „Merkel-Bashing“ zu sprechen. Geht es um Kritik an Russlands Präsident, ist hingegen sehr schnell von „Russlandhass“ und „Putin-Bashing“ die Rede.
Ich kann auch gut verstehen, warum. Bei kritischen Menschen geht das Vertrauen in die großen Medien und in die Politik gegen null. Leider zu Recht. Anders als bei den USA oder Großbritannien kann sich bei Russland kaum jemand selbst ein Bild machen – weil nur die wenigsten Russisch sprechen. Könnte ich die Sprache nicht, hätte ich dort nicht so lange gelebt und würde ich nicht täglich die Nachrichten verfolgen – ich würde wohl auch glauben, dass genauso wie Donald Trump und die AfD eben auch Putin ständig überzogen schwarz gezeichnet wird.
Meine persönliche Erfahrung ist die gegenteilige. Hätte ich auf Putin-Kritik verzichtet, wäre ich wohl heute noch Focus-Korrespondent (was für ein Glück, dass ich es nicht mehr bin). So wohlfeil es ist und war, Putin als Autokraten zu bezeichnen und ihm Menschenrechtsverletzungen und diktatorische Tendenzen zu bescheinigen – die Kriegstreiberei, die er bis zum Exzess betreiben lässt, und die mafiösen Tendenzen waren bis vor kurzem ein Tabu in den großen Medien. Wer sie wie ich ansprach, wurde schnell ausgeblendet.
Ich kann jeden verstehen, der angesichts des schrecklichen Zustandes, in dem sich unsere Politik und unsere Medien befinden, nach einer Alternative dürstet. Ich tue es selbst. Aber ich halte es für tragisch, fast tragikomisch, dass auch Menschen, die die Propaganda hierzulande durchschauen, der Kreml-Propaganda auf den Leim gehen.
Putin ist durch und durch KGB. Über seine Ähnlichkeiten mit Merkel habe ich gerade einen Artikel geschrieben. Die Reaktionen haben mich erschreckt, weil für manche Putin genauso zu einer Ersatzreligion geworden zu sein scheint wie für andere Corona. Manche Reaktionen fielen auffallend ähnlich aus zu denen, die man von Anhängern des Null-Covid-Kults bekommt, wenn man die Maßnahmen kritisiert.
Ich bin überzeugt: Diese beleidigenden Stimmen sind eine absolute Minderheit. Nur eben eine sehr laute. Ich bin mir sicher: Die große Mehrheit meiner Leser ist froh darüber, dass ich auch in Russland kritisch hinsehe. Und selbst die, die eine andere Meinung haben, wissen es zu schätzen, dass ich mich auch an dieser Front (dieses Wort bleibt mir angesichts der aktuellen Lage fast im Halse stecken) nicht verbiege und das sage, was ich für richtig halte. Die große Mehrheit meiner Leser will keinen Journalisten, der ihnen nach dem Mund redet. Sondern einen, an dem sie sich auch mal reiben können – und der sich selbst treu bleibt, auch wenn er auf Widerspruch stößt.
Die große Mehrheit meiner Leser versteht: Demokratie und Freiheit funktionieren nur, wenn man auch gegensätzliche Meinungen akzeptiert, ohne denjenigen herabzusetzen, der sie vertritt. Genau dies geschieht ja in unseren Medien und unserer Politik in Dauerschleife. Und wir, die das kritisch sehen, unterscheiden uns ja genau dadurch, dass wir auch mit anderen Meinungen leben können. Der große Historiker Winkler sagte: „Die deutsche Debattenkultur trägt leider immer noch Schlacken der absolutistischen Zeit. Es gibt auch eine Art von intellektuellem Absolutismus, die typisch ist für Staaten, die eine lange absolutistische Vergangenheit haben. Das gilt leider auch für Deutschland. Man findet diese Unerbittlichkeit im pragmatischen angelsächsischen Denken sehr viel weniger. In Deutschland gibt es in der Debattenkultur noch immer Spuren der Parole: ‘Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag’ ich dir den Schädel ein.‘ Diese Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie.“
So sehr ich Winkler zustimme – so sehr bin ich überzeugt: Es gibt sehr, sehr viele Menschen in Deutschland, die diese Pathologie überwunden haben. Und ich bin mir sicher: Auf meiner Seite und bei meinen Lesern ist deren Zahl besonders hoch.
So wenig ich irgendjemanden bevormunden will oder “betreut informieren” wie die großen Medien – so wenig kann ich mit meiner Überzeugung hinter dem Busch halten, wenn ich mich in einem Gebiet auskenne. Mit den USA etwa kenne ich mich nicht aus. Und deshalb verkneife ich mir ein öffentliches Urteil über die Staaten – auch wenn ich privat allzu oft mit ihnen hadere. Etwa, weil ich glaube, dass viele der politischen Verrücktheiten, die dort Land fröhliche Urständ feiern und bei uns kopiert werden, verheerende Auswirkungen haben – von der Cancel-Kultur über die völlig überzogene “politische Korrektheit” bis hin zu den Auswüchsen viel zu mächtiger Konzerne, vor allem im Bereich Internet und Finanzen.
Wie bei allen Themen fordere ich Sie auch beim Thema Russland auf, sich aus unterschiedlichen, konträren Quellen zu informieren. Das habe ich heute auch in meinem Artikel getan – wo ich meine und die Meinung eines Widerparts gegenüberstelle.
Weil nur die wenigsten von Ihnen gut Russisch sprechen, habe ich dort auch vier Videos über bzw. mit russischer Kriegstreiberei verlinkt, die ich früher bei meinen Russland-Vorträgen zeigte; ich denke, diese Seite des Systems Putin ist hier kaum bekannt. Bei den Videos muss man sich immer auch dazudenken, was diese in den betroffenen Nachbarländern für Reaktionen auslösen, und warum diese sich in Richtung Westen orientieren (sie finden die Videos hier, hier und hier). Besonders bedrückend ist das Video der als Soldaten verkleideten Kinder, die ankündigen, für Putin in den Endkampf zu gehen – und auch Alaska zurückzuholen. Es stammt von einer Abgeordneten der Putin-Partei und hatte siebenstellige Aufrufe:
Nochmals: Ich bin kein US-Experte. Über die USA müssen Sie sich anderweitig informieren. Aber ich kenne Russland bestens. Und deshalb ist es meine Aufgabe, Sie über die Zustände dort zu informieren. Und nicht zu relativieren, wie das die Verteidiger Putins regelmäßig tun. Nehmen wir einmal an, sie haben Recht. Und Russland wurde ganz schlecht behandelt. Ist das dann eine Rechtfertigung dafür, eine Riesen-Armee vor dem Nachbarland auffahren zu lassen, dessen Eroberung zu trainieren und Millionen Menschen in Kriegsangst zu versetzen?
Ich hoffe noch immer auf ein Wunder und darauf, dass es keinen Krieg gibt. Leider wird die Hoffnung, vor allem beim Ansehen der russischen Sender, von Stunde zu Stunde geringer. Wenn es wirklich zum Krieg kommt, habe ich die große Hoffnung, dass auch diejenigen, die vielleicht heute vieles ganz anders sehen als ich – was ich völlig respektiere – zumindest in einem Punkt mit mir einverstanden sind: Dass es mit nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen ist, wenn jemand einen Krieg beginnt. Ich vergleiche das, um es drastisch anschaulich zu machen, mit einer Vergewaltigung: Die ist durch nichts zu rechtfertigen – auch nicht durch schlechten Umgang des Opfers oder dadurch, dass sie den Vergewaltiger “herausforderte”.
Beim Verfolgen der russischen Nachrichten habe ich das makabre Gefühl, dass ich Zeitzeuge von Ereignissen werde, wie ich sie sonst nur aus der Geschichte kenne. Aus deren dunkler Seite. Ich kann nur sagen: Gnade uns Gott vor einem Krieg. Und ich sage das nicht einfach so dahin. Ich war im Tschetschenien-Krieg, ich war im Georgien-Krieg, ich war 2001 in Afghanistan. Und ich kann mich nur wiederholen: Gnade uns Gott! Und bewahre er uns auch davor, dass wir Ausflüchte finden, um Krieg zu rechtfertigen!
Eigentlich hatte ich mir mein erstes Wochenbriefing ohne Corona ganz anders vorgestellt. Aber, wie meine Oma zu sagen pflegte: Der Mensch denkt und Gott lenkt. Und es wäre unverantwortlich, etwas anderes zu schreiben als das, was ich geschrieben habe.
Ganz zum Schluss noch ein wenig zur Seite: Im Januar hatten wir mit 52 Millionen Aufrufen einen neuen Rekord. Wir waren dabei aber nicht nur an der Grenze, sondern über der Grenze unserer Möglichkeiten. Darum möchte ich das tun, was für unsere Zeiten sehr ungewöhnlich ist: Mir fest vornehmen, zu schrumpfen. Denn diese Schlagzahl mit oft bis zu 12 Artikeln am Tag können mein kleines Team und ich nicht auf Dauer durchhalten. Wir arbeiten hart daran, uns zu bremsen, und haben die Artikelzahl bereits deutlich gesenkt. Ich hoffe sehr, dass Sie dafür Verständnis haben. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, dass wir aufgrund Ihrer Unterstützung delegieren und die Last auf viele Schultern verteilen können; ohne GEZ-Milliarden und Steuer-Millionen.
Und ich möchte die Seite weiterentwickeln. In den vergangenen Monaten waren es mir selbst zu wenige eigene Video-Kommentare; ich möchte dieses Genre weiter ausbauen, und die Kommentare dann auch noch besser mit der Seite vernetzen. Allzu viel Zeit geht momentan für organisatorische, technische und administrative Aufgaben verloren. Daran arbeite ich. Mittelfristig hoffe ich immer noch auf eine größere Kooperation – denn so sehr einerseits die Vielfalt der kritischen Medien wichtig ist, so wichtig sind andererseits Synergieeffekte, und die werden noch viel zu wenig genutzt.
Sie sehen, ich stecke trotz eines 16-Stunden-Arbeitstages weiter voller Energie und Ideen. Dank Ihnen, denn Sie sind mein Antrieb und meine Motivation!
Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!
Auf viele Wiedersehen auf der Seite,
herzlich
Ihr
Boris Reitschuster
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